Mustafa Kabakçıoğlu, 44-Jahre alt, war stellvertretender Kommissar bei der Polizei im nordtürkischen Giresun, bis er im Sommer 2016 per Notstands-Dekret aus dem Staatsdienst entlassen, verhaftet und als Gülen-Anhänger zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Presseberichten zufolge wurde ihm zur Last gelegt, dass er fünf Lira (aktuell knapp 50 Cent) an einen Wohlfahrtsverband gespendet hatte, der später als Gülen-nah verboten wurde, und dass er eine App auf sein Handy geladen habe, die von vielen Gülen-Anhängern genutzt wurde.
Am 29. August 2020 am frühen Morgen gegen 6 Uhr finden die Gefängniswärter in der Zelle D-2 im Gefängnis von Gümüşhane, einer Stadt im Nordosten der Türkei den in der Nacht qualvoll verstorbenen Mustafa Kabakçıoğlu auf einem weißen Plastikstuhl. Sein Kopf ist nach hinten gekippt, seine Zehennägel schwarzblau gefärbt.
Laut dem Arzt, der die Autopsie durchführte, starb der Mann zwischen zwei und drei Uhr nachts. Ob er den Notfallknopf drückte, ist unklar. Was genau in dieser Nacht geschah, weiß niemand. Der Ex-Polizist sei neun Tagen zuvor in Quarantäne gesteckt worden, weil er gehustet habe. Die Familie begegnet dem Geschehen mit Skepsis. Kabakçıoğlu sei schon seit seiner Kindheit chronisch an Asthma erkrankt. Zudem wurde 2017, also während seiner Haft, Diabetes diagnostiziert. Als er in diesem Sommer zu husten begann, steckte die Gefängnisleitung ihn in eine Einzelzelle, ließ ihn aber nicht auf Covid-19 testen – erst die Obduktion ergab, dass er nicht mit dem Coronavirus infiziert war. Aus
der Einzelzelle flehte der Häftling um Behandlung. „Ich habe Schwellungen im Mund und am Bein, mein Arm ist taub, ich kann unterhalb der Gürtellinie nichts spüren und mich nicht bewegen“, schrieb er in seinem letzten Antrag an den Gefängnisarzt.
Warum sind so viele Menschen in türkischen Gefängnissen?
Laut Statistiken befanden sich 294.000 Menschen in türkischen Justizvollstreckungsanstalten und rund 150.000 Beamt_innen arbeiten in diesen Einrichtungen (Stand 31.01.2020). Den Gefängniseinrichtungen mangelt es an angemessenen Isolations-, Hygiene-, Ernährungs- und Behandlungsmöglichkeiten. Diese Situation stellt eine ernsthafte Bedrohung für das Recht auf Leben aller Gefangenen dar, zu deren Schutz der türkische Staat verfassungsrechtlich als auch durch internationale Abkommen verpflichtet ist.
Das türkische Anti-Terror-Gesetz beinhaltet eine sehr weite Definition von „Terror“ und lässt daher sehr viel Raum für Interpretationen. Hierdurch ist es möglich, politische Gegner und Journalisten mit einem Terrorvorwurf einzusperren. Zuletzt wurde im Türkei-Bericht von Dunja Mijatovic, Menschenrechtskommissarin des Europarates, hierauf aufmerksam gemacht.
Während im Jahr 2013 – 8.416 Anklagen nach Artikel 314 des Türkischen Strafgesetz (TSG) wegen angeblichen Terroraktivitäten eingereicht wurden, betrug diese Zahl im Jahr 2017 – 146.731, in 2018 – 115.753 und 2019 – 54.464. Diese Statistiken zeigen, dass türkische Staatsanwälte mehr als 392.000 Anklagen nach Artikel 314 des TSG eingereicht haben. Was noch schlimmer ist, zwischen 2016 und 2019 wurden mehr als 220.000 Personen wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation verurteilt.Dabei ist es egal, ob man tatsächlich terroristischen Aktivitäten nachgegangen ist. Auch das Verfassen und Teilen von Gedankengut, das einer vermeintlichen Terrororganisation nahesteht, gilt als terroristischer Akt.
Von einer Amnestie wegen der Coronavirus-Pandemie wurden sie im April als politische Häftlinge ausdrücklich ausgenommen, während fast 100.000 kriminelle Sträflinge freigelassen wurden, darunter Mafia-Bosse und rechtsradikale Rädelsführer.
Presseerklärung – Ein Plastikstuhl auf dem die Menschlichkeit starb!
Basın Açıklaması – İnsanlık beyaz sandalyede öldü!