Wir, Freiwillige der Vereine Aktion für Flüchtlingshilfe e.V. und Human Rights Defenders e.V., haben uns heute hier versammelt, um die Gräueltaten der türkischen Regierung zu erklären, um auf die schweren Menschenrechtsverletzungen in diesem Land aufmerksam zu machen, um zum Ausdruck zu bringen, dass wir dies nicht akzeptieren und um zu verdeutlichen, dass nun GENUG ist!
Mustafa Kabakçıoğlu, 44 Jahre alt, wurde tot auf einem Plastikstuhl in einer heruntergekommenen Quarantänezelle in der Haftanstalt in Gümüshane gefunden. Er starb alleine in dieser Quarantänezelle. Obwohl er mehrere Anträge auf ärztliche Behandlung stellte, wurde ihm die benötigte Hilfe verweigert.
Die Behörden in der Türkei ignorierten den drohenden Tod und überließen den Familienvater seinem Schicksal. Seine Leiche wurde am 29. August, 4 Monate vor seiner Freilassung, gefunden. Die Öffentlichkeit wurde erst 48 Tage nach Erscheinen der Fotos darauf aufmerksam.
Der Staatsanwalt ermittelte daraufhin nicht etwa gegen die zuständigen Beamten und Behörden, sondern gegen die Journalisten, die den Tod des schwerkranken Mustafa Kabakçıoğlu veröffentlichten und die schrecklichen Bilder publizierten.
Ein weiterer Häftling, Mustafa Avialan, der 2018 im Gefängnis einen Herzinfarkt erlitt und operiert wurde, wurde gegen ärztliches Einverständnis vor seiner Genesung zurück ins Gefängnis eingewiesen. Seine chronischen Herzprobleme galten für den Staat nicht als ausschlaggebender Grund für eine frühzeitige Entlassung. Auch er verstarb vor einigen Tagen. Mustafa Kabakçıoğlu, Mustafa Avialan, Halime Gülsu, Nesrin Gençosman, Ali Boçnak, Muzaffer Özcengiz sind nur einige wenige Beispiele für schwer erkrankte Menschen, die in den Gefängnissen nicht ordnungsgemäß behandelt und dem Tod überlassen wurden. Mehr als 100 schwerkranke Insass*innen sind nach 2016 in den Gefängnissen gestorben.
Laut Statistiken befinden sich 294.000 Menschen in türkischen Justizvollzugsanstalten, und rund 150.000 Beamt*innen arbeiten in diesen Einrichtungen (Stand 31.01.2020). Den Gefängniseinrichtungen mangelt es an angemessenen Isolations-, Hygiene-, Ernährungs- und Behandlungsmöglichkeiten. Diese Situation stellt eine ernsthafte Bedrohung für das Recht auf das Leben aller Gefangenen dar, zu deren Schutz der türkische Staat sowohl verfassungsrechtlich als auch durch internationale Abkommen verpflichtet ist.
Das türkische Anti-Terror-Gesetz definiert eine sehr weitläufige Definition von „Terror“ und lässt daher viel Raum für Interpretationen. Hierdurch ist es möglich, politische Gegnerinnen und Journalistinnen unter der Begründung eines Terrorvorwurfs einzusperren. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, machte in ihrem Türkei-Bericht auf diese Problematik aufmerksam.
Statistiken zufolge reichten türkische Staatsanwälte zwischen 2016 und 2019 mehr als 392.000 Anklagen nach Artikel 314 des TSG ein. Alarmierend ist auch, dass zwischen 2016 und 2019 mehr als 220.000 Personen wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation verurteilt wurden. Es ist dabei gleich, ob die angeklagten Personen tatsächlich terroristischen Aktivitäten nachgegangen sind.
Auch das Verfassen und Teilen von vermeintlich Terrororganisationen nahestehendem Gedankengut gilt als terroristischer Akt.
Von einer Amnestie wegen der Coronavirus-Pandemie wurden im April politische Häftlinge zudem ausdrücklich ausgenommen, während fast 100.000 kriminelle Sträflinge freigelassen wurden. Bei den begnadigten Personen handelte es sich unter anderem um verurteilte Mafia-Bosse und rechtsradikale Rädelsführer und Mörder.
In den letzten 10 Jahren schaffte die AKP-Regierung Schritt für Schritt den Rechtsstaat ab. Die Konsequenzen der Dimensionen von Menschenrechtsverletzungen werden nun zunehmend offensichtlicher.
Das Ausmaß an Korruption und Straffreiheit genießenden Gruppen zieht sich durch alle politischen Organe des Landes. So werden gerichtliche Entscheidungen nicht basierend auf der Verfassung, sondern auf den antidemokratischen Willen des Präsidenten hin getroffen.
Deswegen rufen wir heute von Berlin aus, dass diese rechtswidrigen Handlungen der Erdoğan-Regierung ein Ende haben müssen. Wir sagen Stopp zu der zunehmend autoritären politischen Praxis der Türkei.
Wir fordern, dass die willkürlichen Verhaftungen sofort enden und alle schwerkranken Häftlinge entlassen und ihnen Zugang zu ordnungsgemäßer Behandlung gewährt wird.
Wir rufen die türkische Regierung dazu auf, die 780 Babys und Kleinkinder mit ihren Müttern sofort aus den Gefängnissen zu entlassen.
Hunderte Journalistinnen, Freidenkerinnen, oppositionelle Politikerinnen und Kulturmäzinnen wie Osman Kavala, Selahattin Demirtaş, Ahmet Altan, Müyesser Yıldız und Ali Ünal müssen umgehend aus den Gefängnissen entlassen werden.
Wir fordern Freiheit und Gerechtigkeit für alle politischen Gefangenen. Wir fordern Recht und Gerechtigkeit für jede*n in der Türkei.