Der Erdogan-Putsch (!) vom 20. Juli
Berlin, 20.07.2020 – Am 15. Juli 2016 ereignete sich in der Türkei ein blutiger Putschversuch. Obwohl das wahre Ausmaß des Putschversuchs nie vollständig geklärt wurde, diente er als Vorwand, um schwere Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen und den Übergang zur Autokratie einzuleiten – ein Vorgang, der in der modernen türkischen Geschichte beispiellos ist. Erdogans hartes Vorgehen gegen die Opposition und seine gezielte Konsolidierung absoluter Macht lassen darauf schließen, dass es in der Türkei tatsächlich einen Putsch, allerdings von der Seite Erdogans, gegeben hat.
Präsident Erdogan bezeichnete den Putschversuch als „ein Geschenk Gottes“. „Menschen strömten auf die Straßen, um putschistischen Elementen und Panzern entgegenzutreten. Sie haben den Putsch erfolgreich in ihren eigenen Putsch verwandelt“, kommentierte er.
Obwohl die türkische Regierung die Gülen-Bewegung unbegründet für den Staatsstreich verantwortlich macht, erregen die Äußerungen des Präsidenten den Verdacht, dass der dilettantisch ausgeführte Putschversuch Teil eines von der Regierung konzipierten Putschplans sein könnte.
Auf diese Annahme weist auch die Äußerung des Ankara-Chefanklägers Harun Kodalak in einem Interview hin. Sie hätten Beweise gebraucht, um die Gülen-Bewegung als bewaffnete Terrororganisation zu bezeichnen. Der Putschversuch gebe ihnen die Möglichkeit, die Menschen von der Zuschreibung als terroristische Organisation zu überzeugen.
Am 20. Juli 2016, fünf Tage nach dem Putschversuch, rief der türkische Präsident als Reaktion den Ausnahmezustand aus und setzte die Europäische Menschenrechtskonvention für die entsprechende Dauer außer Kraft. Dies ermöglichte es ihm, das Parlament bei der Einschränkung von Freiheiten und Rechten zu umgehen.
Erst nach diesem Putsch vom 20. Juli wandelte sich das Regierungssystem zu einem Präsidialsystem, das alle Exekutivgewalt in den Händen einer Person konzentriert. Ein Wandel, der Erdogan einen direkten Einfluss auf die Justiz gewährte.
In den folgenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren begann die türkische Regierung mit einem außergewöhnlich harten Durchgreifen, insbesondere gegen Personen, die sie mit der Gülen-Bewegung assoziierte.
Das Ausmaß dieser landesweiten Hexenjagd konnte nur durch die implementierten Erlassgesetze nach dem Putsch am 20. Juli erreicht werden.
Die Säuberungskampagne nach dem Putschversuch schien in erster Linie auf das Justizsystem abzuzielen. Darauf lassen die insgesamt 4317 Richter und Staatsanwälte schließen, die nur Stunden nach dem Putschversuch entlassen und verhaftet wurden.
Das Ausrufen des Ausnahmezustands führte zur Legitimierung von Folterungen, willkürlichen Festnahmen und Eingriffen in die Justiz. Auch nach der Aufhebung des Ausnahmezustands setzten sich die Vergehen fort.
So kam es seit 2016 zur Feststellung von insgesamt 7139 Folterfällen. Lehrer, Richter und Staatsanwälte wurden entlassen oder strafrechtlich verfolgt; Geschäftsleute und Journalisten verhaftet, die Medien und Websites blockiert. Insgesamt wurden 125.678 Beamte entlassen, 179 Medieninstitutionen wurden geschlossen und 200 Journalisten, darunter prominente wie Ahmet Altan, verhaftet.
Die Zahl der Inhaftierten stieg in der Türkei nach dem Erdogan-Putsch sprunghaft an. Bei der Inhaftierungsrate – der Zahl der Inhaftierten pro 100.000 Einwohner – steht die Türkei unter den OECD-Ländern nun stand (Hier fehlt eine Zahl oder eine Formulierung, um die Position genau zu nennen.) an zweiter Stelle.
Der Erdogan-Putsch vom 20. Juli war nicht der Beginn der Autokratie in der Türkei, kann aber als ein Wendepunkt gewertet werden, der Erdogan die Gelegenheit bot, die demokratischen Institutionen und die Justiz zu zerschlagen. Darauf drängte er, nachdem die Korruptionsuntersuchung bezüglich seines inneren Kreises im Dezember 2013 begonnen hatte.
Während des Ausnahmezustands, der nach dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli ausgerufen wurde, wurden tausende Menschen zu Flüchtlingen, wobei viele Individuen auf der Flucht aus der Türkei ums Leben kamen. Erdogans aggressive Außenpolitik, die er nach dem 20. Juli 2016 verfolgte, ist nach wie vor eine weitere Quelle der Unruhe, die die Zahl der Flüchtlinge in Syrien, Libyen und im Irak deutlich erhöht hat.
Heute jährt sich der Putschversuch gegen Erdogan am 15. Juli zum vierten Mal. Wir wollen auf Erdogans autoritäres Regime aufmerksam machen, das den Putschversuch vom 15. Juli 2016 als Verkleidung und „Geschenk Gottes“ für den echten Putsch von Erdogans Seite am 20. Juli verwendete.
Es ist unsere Pflicht als westliche Staaten, die unter Erdogans Regime leidenden Menschen im Interesse der Demokratie und der Menschenrechte zu unterstützen und zu retten. Zudem ist es unabdingbar, dass europäische Länder die Türkei veranlassen, Normen und Gesetze im Einklang mit den europäischen Werten wiederherzustellen.